Manches verändert sich ganz unauffällig. Schleicht sich ein ohne offensichtlichen Zusammenhang. Bleibt.


Ich lese einen Artikel und weiß 15 Minuten später nicht mehr, um was es ging. Ich verabrede mich und vergesse das Datum. Ich schaue einen Film und kann hinterher nicht davon erzählen. Ich werde an der Kasse nervös, weil ich nicht sicher bin, ob ich meine Pin im Kopf habe. Ich kann nicht mehr diskutieren, weil ich ständig meinen Gedanken verliere. Ich fange eine Aufgabe an, immer wieder, weil ich zwischendrin vergesse, was ich gerade mache.

Ich habe ein Aufmerksamkeitsdefizit. Icke! Die sich auch Jahre nach dem Abi noch an jeden Geburtstag alter Freunde erinnern konnte. Icke! Die sich keinen Arzttermin jemals in einen Kalender eintragen musste. Icke! Die Telefonnummern noch aus dem Kopf eintippte. Icke! Die nicht mal bei der Arbeit eine todo-Liste brauchte.

Ich bin abgelenkt. Immer häufiger sagen Menschen jetzt zu mir “Du hörst mir nicht zu”, weil ich simple Informationen, die sie mir geben, nicht weiter verarbeiten kann. Immer häufiger sage ich zu Menschen “Oh, sorry, das habe ich vergessen.”

Ich kotze mich selber an.

Ich bin unzuverlässig. Ich komme jetzt immer zu spät. Icke! Ich komme nie zu spät. Ich bin die, die zu früh kommt, eine Extra-Runde um den Block dreht oder an der Straßenecke wartet, damit die Zeit vergeht.

Ich kotze mich selber an.

Ich bin unaufmerksam. Ich verliere immer mehr Sachen. Ich verliere deine meine Lieblingsmütze und das Handy. Ich verliere Erinnerungsstücke. Ich mache dumme Fehler mit großen Effekten. Fehler, die mich viel Geld kosten.

Ich überlege, was mit mir los ist und wann es angefangen hat. Ich finde es selbst albern, als ich erkenne, seit wann mein Kopf nicht mehr so schnell arbeitet wie gewohnt oder zwischendurch ganz ausetzt.

Es klingt absurd und irrational und vor allem viel zu einfach. Schließlich kann so ein Tod jetzt auch nicht an allem Schuld sein, was nicht mehr richtig funktioniert. Nicht jedes Alltagsversagen und nicht jede persönliche Unzulänglichkeit lässt sich damit rechtfertigen, dass irgendwie gerade das Fundament fehlt.

Ich schiebe es beiseite und kotze mich selber an.

Weil mir offensichtlich ziemlich viel egal geworden ist. Die einzige Antwort, auf die ich komme. Dass es mir vielleicht einfach nicht mehr wichtig ist. Ich bin so dermaßen abgelenkt und unaufmerksam, dass ich mir selbst nicht mehr zuhöre. Ich bin taub für das, was mir eigentlich laut entgegen schreit. DAS TRAUMA.

Aber dann stolper ich über ein paar Gedanken schlauer Leute. Die mit ihrer ähnlichen ganz anderen Geschichte. Ich lese, was sie sagen – und vergesse es ausnahmsweise nicht. Trauer und ein dysfunktionales Gehirn, sagen sie, das gehört zusammen.

Und dann ist das schon wieder die nächste größte Erkenntnis: Dass da eben mehr kaputt gegangen ist, als nur ein Herz. Dass Trauer eben doch viel mehr ist, als ein innerer, stiller, unsichtbarer Prozess. Es sind die grauen Haare, die sich breit machen. Es ist die Haut, die immer wieder ausschlägt. Es ist das Gehirn, das zwischendurch einfach immer wieder dicht macht. Es ist die konsequente Überforderung des ganzen Körpers. Der emotionale Stress, den ich ja selbst schon lange nicht mehr bemerke, weil der einfach immer da ist jetzt.

Wenn man hinguckt, dann kann man sie tatsächlich in so viel mehr sehen, als in manchmal traurigen Augen. Diese Wunde an meinem Körper. Diese Trauer.

Ich kotz mich jetzt gar nicht mehr an. Ich musste mich nur mal damit beschäftigen, den wenigen leisen Stimmen zuhören, um zu verstehen, was in der großen Positiv-Blase für alle laut definiert ist: Ich war nie schwanger, aber habe schon 100 Mal von Schwangerschaftsdemenz gehört. Common knowledge. Dass es auch so etwas wie Trauerdemenz gibt – ein Wort ohne google-Suchergebnis – muss man sich erstmal selbst erklären. Trauer im DIY-Modus. Learning nur by doing. Doof eigentlich.

Also Trauerdemenz – Zeit, das mal breit zu trampeln. One day you may think of me and back to this… Aber dann, da bin ich mir sicher, ist das nichts, was ein Kalendereintrag, dreißig Post-Its und ein bisschen Geduld nicht retten könnten.

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